ATU 0 und I bis X
von F.D.L.

Tarot
Einen kurzen Überblick über die 22 Trumpfkarten des Tarotspiels zu geben wird vielen angesichts der mittlerweile existierenden Bücherberge nicht gerade notwendig erscheinen. Fast alle existierenden Schriften und Erklärungen zum Tarot beziehen sich jedoch auf bestimmte Spiele und erklären die Bedeutungen der Karten anhand der auf ihnen abgebildeten Symbole und Figuren. Mein Anliegen wird sein, dieser Festlegung ein wenig zu entkommen. Es gibt viele Studien, Geschichten und Legenden, woher denn das Tarotspiel gekommen sei und es scheint sinnvoll, sie alle zusammen als wahr zu nehmen und die Herkunft des Tarot in derselben Art anzugehen wie die Interpretation einer Kartenauslage: Alles ist wahr, nichts ist falsch, jedoch ist Wahrheit erst die Summe alles Wahren. Glauben Sie alles, vertrauen Sie aber nur sich selbst.

Historisch belegt ist die Existenz der Tarotkarten in der heute existierenden Form seit dem europäischen Mittelalter. Das erste bekannte Spiel, dessen Verbreitung nennenswert wäre, ist somit der Tarot de Marseille, an dessen Darstellungen der Suisse Tarot später anknüpft.

In der Neuzeit wurde der Tarot, und vor allem seine 22 Trumpfkarten, durch den einflussreichen Hermetischen Orden der Goldenen Dämmerung (Golden Dawn) wiederbelebt und mit kabbalistischen, astrologischen und magischen Theorien in wissenschaftlicher Weise in Verbindung gebracht. (Das Selbstverständnis der Magie ist das einer Wissenschaft, auch wenn dieses nach heutiger Definition manchem als seltsam erscheinen mag.) So wurden die Spielkarten des Rider-Waite-Tarot entworfen, die bis heute die am meisten verbreitetsten sind.

Als Aleister Crowley, mit lautem Getöse wie es seine Art war, den Golden Dawn verliess, zeigte sich erneut das immer existierende Schisma des Morgenlandes. Crowley entwickelte einen eigenen Tarot, der in seiner Breite und Komplexität den Rider-Waite verschlucken sollte; in der Tiefe jedoch schlicht einen neuen Weg einschlug. Dieses Kartenspiel (wie Crowleys Wirken insgesamt) öffnete der grossen Masse die magische Welt des Tarot und stattete die Menschen mit dem notwendigen Selbstvertrauen aus, ihren eigenen Gedanken Wert und Daseinsberechtigung zuzumessen. So entstanden in den letzten Jahren unter dem schützenden Schirm der esoterischen Markwirtschaft hunderte von neuen Tarotkarten. Die klassische Geschichte des Tarot endet jedoch in diesem Jahrhundert und eine neue ist dabei zu entstehen. Es ist das neue Äon.

Die Trümpfe
Doch zu den Trumpfkarten:

Es gibt derer 22, die von eins bis einundzwanzig durchnummeriert sind. Eine weitere Karte trägt die Zahl 0 und wird der Narr genannt. Wie auch die Null mathematisch alle Definitionen sprengt und als niemals wirklich fassbare Realität existiert, so gibt es bezüglich des Narren auch eine nicht zu lösende Diskussion, ob sie denn die erste oder die letzte Karte sei oder vielleicht garkeinen feste Platz habe. Beweisen lässt sich natürlich jede dieser Theorien. Tatsache ist jedoch, dass gerade die Unklarheit der Position die Bedeutung dieser Karte am besten illustriert. Der Narr ist der, dem alle Möglichkeiten offen stehen, der sich jedoch nicht entscheiden kann oder will. Hier, zwischen Können und Wollen verläuft die Grenze zwischen Narr und Weiser. Der Narr versinkt in den Formen und Inhalten der Welt, der Heilige Narr, der Weise, entscheidet sich für die Freiheit der Bindungslosigkeit. James Joyce, dessen Tochter schizophren war, fragte einmal C. G. Jung, was denn der Unterschied zwischen ihnen wäre: Er als Schriftsteller würde doch auch nichts anderes leben als seine Tochter, da sie beide sich in den Tiefen ihres Unbewussten bewegen würden. Jung antwortete darauf: "Sie tauchen, ihre Tochter aber sinkt." Die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn verläuft durch die Karte des Narren. Die Null birgt alles oder nichts, sie ist die Lebensfreude oder die Verlorenheit in der Fülle. Alle Möglichkeiten liegen offen in dieser Karte, jedoch sind sie ohne Struktur. Diese muss aus uns selbst kommen und heisst Vertrauen.

Die erste nummerierte Karte ist der Magier. Magie ist Wissen, Wollen, Wagen, oder anders formuliert: Lernen, Selbsterkenntnis und Handeln. Der Magier ist ein Mensch, der über die zerschmetternde Erkenntnis seiner Nichtigkeit zu seiner unendlichen Kraft als Teil der Schöpfung gekommen ist und diese Verbindung nutzen kann und will. Er hat die Fähigkeit zu teilen und zu verbinden erlangt, ist der Berührungspunkt zwischen göttlicher und menschlicher Dimension. Der Magier ist das Wachbewusstsein in seiner stärksten und aktivsten Form.

Entsprechend ist die folgende Karte der Hohepriesterin der Archetyp für das Unbewusste in seiner stärksten und aktivsten Form. Die Hohepriesterin vereinigt sich rituell mit dem Magier zur schöpferischen Ureinheit und aus ihnen heraus werden alle den Menschen betreffenden Karten geboren. Weder Magier noch Hohepriesterin können einzeln ein Weg sein, als Synthese der beiden Wege im dualen System von männlich und weiblich sind sie der erwachte Mensch als Krone der Schöpfung. Die Hohepriesterin hält wortlos das geheime Wissen um die Welt, der Magier hat die Fähigkeit erlangt es auszusprechen.

Die dritte und die vierte Karte spiegeln die erste und zweite auf der weltlichen Ebene. Die Kaiserin und der Kaiser, wie sie zum Beispiel genannt werden, sind ein ähnliches Paar, jedoch herrschen sie über ein irdisches Reich, nicht im Reich der Seele. Hier zeigt sich die praktische Auswirkung in unserer Realität. Die Kaiserin ist fruchtbar, hat Kinder, ist eine lebende Frau (die Hohepriesterin ist die jungfräuliche Mutter), die Zugang zu ihrer Weiblichkeit hat und aus ihr heraus lebt. Entsprechend ist ihr Mann, der Kaiser, ein bewusster Mann der herrscht und herrschen kann (der Magier ist ein Diener).

Die folgende fünfte Karte ist der Hohepriester. Verwirrenderweise lebt der Hohepriester nicht neben seiner Hohepriesterin. Warum ist die Hohepriesterin mit dem Magier zusammen und nicht mit dem Hohepriester, was ja wohl viel logischer wäre? Nun, meistens ist sie in der Tat mit dem Hohepriester zusammen, ihre grosse Liebe ist aber der Magier. Der Hohepriester ist ein erleuchteter Herrscher, ein Mann der seine Männlichkeit innerhalb einer Tempelstruktur transzendiert hat. Er ist erhöht und hat ein Recht auf eine Hohepriesterin (der Magier fordert keine Rechte ein), die jedoch nicht seine Partnerin ist, sondern die ihm dient. Auf dem männlichen Weg gibt es die zwei Stufen Kraft (Magier) und Macht (Hohepriester), auf dem weiblichen Weg gibt es keine Stufen; sie wären ein Widerspruch in sich und eine Hohepriesterin auf der Ebene der fünften Karte in einer Tempel- oder Ordensstruktur würde diese Struktur augenblicklich zerstören.

Die sechste Karte, die Liebenden, beschreibt anhand des Beispiels menschlicher Liebe diesen Scheideweg an dem zwei sich liebende Menschen (und nicht nur die) unweigerlich stehen. Weltlich oder geistig, Nutzen oder Glück? Vor dieser Entscheidung stehen wir bei der sechsten Karte und wissen sehr wohl, dass die wahre Antwort auf diese Frage keine ist. Wahre Liebe stellt diese Entscheidungsfrage nicht, sie ist beides. Doch solange die wahre Liebe nicht da ist, werden wir trennen müssen zwischen den zwei Arten von Liebe und entscheiden müssen, tausendfach und jeden Tag erneut. Würde es eine weltliche Hohepriesterin geben, so wäre diese Karte überflüssig und trüge den Namen, den wahre Liebende für sich suchen.

Und wie so oft im System der Trümpfe schwingt das Pendel zur anderen Seite und wir stehen bei der siebten Karte, dem Wagen, der die Karte des zentrierten Willens, des festen Zieles und der Disziplin dieses zu erreichen ist. Die den Wagen ziehenden Kräfte müssen gehalten, gelenkt und verstanden werden. Unser Lebensweg verläuft nicht auf Schienen, sondern wir selbst bestimmen ihn - bewusst oder unbewusst. Der Wagen rollt immer, ob wir ihn lenken oder nicht. Wir sollten jedoch versuchen, die Zügel in die Hand zu nehmen, um uns nicht selbst zu verlieren.

Karte Acht zeigt uns diesbezüglich unsere Grenzen, aber auch unsere Möglichkeiten. Ob Karma, Ausgleichung, Gerechtigkeit, es ist die Karte des grösseren Systems als wir es erfassen können und in das wir eingebunden sind. Es ist die Konsequenz unserer Freiheit zu handeln und zu entscheiden. (Ich gehe hier bewusst nicht auf die vor-crowleysche Reihenfolge ein, bei der die elfte und achte Karte ihre Plätze getauscht hatten, da dieses Thema erst nach Einbeziehung der elften Position verständlich wird.)

Dieses Gesetz zu erforschen, das Regelwerk Gottes und seiner Schöpfung besser kennenzulernen, hat sich der Eremit, die neunte Karte, von der Welt zurückgezogen. Er ist das klassische Bild des Weisen, der den Weg ins Innen eingeschlagen hat, fort von allem Aussen. Dieser Weg führt weg von den wirbelnden Realitäten unserer Welt, unserer Gedanken und Gefühle, hinein in den Kern des Seins, zur Nabe des Rad des Schicksals, dem windstillen Auge des Sturms.

Dies ist die zehnte Karte, die erste Karte absoluter Unpersönlichkeit. Der Mensch, der sich dem Lauf der Welt bewusst entzieht kann Weisheit und Wissen ohne Grenzen erlangen. Verbleibt er jedoch an diesem inneren Ort absoluter Erkenntnis, so ist er tot für die Welt.

Hier wäre die Reihe der Trümpfe beendet, wäre der Tarot ein weltliches Spiel. Da er dieses nicht ist, befinden wir uns erst auf halbem Wege und die Auferstehung in ein neues Bewusstsein steht uns unmittelbar bevor. Davon im zweiten Teil.

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mit freundlicher Genehmigung von F.D.L. (c)1999

F.D.L. beschäftigt sich seit über 15 Jahren mit Tarot, Magie und allen angrenzenden Themen. Unter anderem ist er Mitglied in der ATA (American Tarot Association) und der ITS (International Tarot Society), hält seit einigen Jahren Vorträge und Seminare zum Tarot und führt seit 10 Jahren Beratungen durch.

F.D.L. betreibt ein eigenes Forum:
"Diskussions- und Informationsforum zur synkretistischen Annäherung an den Tarot und andere divinatorische Systeme"


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